Der Leipziger Autor Carl-Christian Elze liest am 22.Juni 2023 in vier Unterrichtsstunden vor jeweils zwei elften Klassen.

Das Interpretieren von Gedichten und die Lektüre eines Romans gehören zum Curriculum für die  11. Klassen. Warum also nicht einen Autor einladen, der mit seinen Werken beides ist, Verfasser moderner Lyrik und eines Romans, der auf eine ungewöhnliche Weise Einblick in das Leben eines Siebzehnjährigen vermittelt? Mit ihm ließe sich besprechen, wie er den Zugang zu seinen Stoffen findet und warum er seine Stoffe so gestaltet.

Um sich vorzustellen, erzählte Carl-Christian Elze aus seinem Leben als Sohn eines Zootierarztes im Leipziger Zoo, Löwenkinder vor Augen und auf Elefanten reitend. Wie eine Löwenmutter Tigerkinder säugt, konnte er als Junge beobachten. Doch keine Kindheit und Jugend ist nur idyllisch, und so bekannte der Autor: „Das Schreiben hat mich gerettet. Es  kann helfen, um Ängste zu bannen. Worte, die wir schreiben, können wirken wie Zaubersprüche.“ Wer spürt, wie sehr ihm das Schreiben hilft, wird davon nicht lassen können. In dieser Hinsicht sei Schreiben wie eine Droge. „Beim Schreiben möchte ich etwas herausfinden. Manchmal führt dabei jemand meine Hand oder ich fühle mich wie ein Surfer auf Wellen.“

Was ist das Besondere an seinen Gedichten? Er schreibt über das, was ihm wichtig ist, und sieht sich als Gottsucher, weil Menschen auf viele Fragen keine Antworten geben können. Der Vielfalt des menschlichen Lebens, der Natur und des Universums versucht er schreibend zu begegnen. So heißt es in einem Gedicht: „die erde ist ein kugelförmiges raumschiff, mit einhundertundsieben-  / tausend kilometern pro stunde kreist sie um einen brennenden / gasball wie eine mücke um ein teelicht in einem / windstillen schwarzen wald.“

Im Unterricht hatten wir das dreiteilige Gedicht „triptychon“ besprochen, das er dreißig Jahre nach dem Mauerfall verfasste und das diesen und die Zeit danach in gewagte Sprachbilder setzt. Natürlich war es spannend, zu erfahren, ob wir dabei mit unseren Interpretationen richtig lagen. Noch relativ leicht zu erschließen waren für uns im Unterricht die Eingangsverse: „keine Ahnung der westen ein ufo gelandet / über nacht im braunkohlenstaub oder wir / gelandet im westen im kurfürstenstaub / bahnhof zoo meine füße zum ersten mal westen / westhäuser weststraßen westautos satt.“

In diesem Gedicht mit 101 Versen lässt sich vieles dann doch nur erschließen, wenn wir den Erfahrungsschatz eines Leipzigers kennen, der auch das eigene Erleben spiegelt. Dass mit der Ecke in Leipzig, die „so rund ist wie der tod“ und an der die halbe Stadt bei ihren Montagsdemonstrationen im Kreis vorbeizieht, die Zentrale bzw. Bezirksverwaltung der Staatsicherheit gemeint ist, konnten wir nur vermuten. Die Öffnung der Mauer ermöglicht dem Jugendlichen die erste leibhaftige Begegnung mit einer anderen Welt, und es wirkt auf ihn zugleich faszinierend und einschüchternd, denn sie weckt die Scham, ärmer an Erfahrungen und Möglichkeiten gewesen zu sein. Was sich die Jugendlichen im Westen wie selbstverständlich zu sagen trauten, hätte er sich zunächst nicht gewagt nach all den Jahren der Vorsicht z.B. im Fach Staatsbürgerkunde in der Schule, wo man vieles verschweigen musste, was zu Hause gedacht und gesagt wurde. Der Westen begegnet ihm am intensivsten in der Musik des Westens, das erste Konzert mit Tina Turner, Joe Cocker und den Simple Minds wird zu einem Erlebnis vor riesigem Publikum. Als die ersten Pommesbuden, Dönerbuden und Burgerbuden eröffnen, wirken sie in Leipzig wie die ersten Blüten des Westens und werden zu Kultstätten für Jugendliche, die sich während der Hofpausen in die Straßenbahn setzen, um sie zu erreichen.

Während die Jugendlichen die neuen Freiheiten nach der Wende begrüßten, wuchs die Sorge der Erwachsenen um den Arbeitsplatz. Auch in der beruflichen Biographie wurde die ostdeutsche Vergangenheit nun als Makel empfunden. Chefposten gingen vorzugsweise an Westdeutsche, die nicht selten am Montagmorgen anreisten und am Mittwoch in den Westen zurückflogen. Man sprach von den „Lufthansaprofessoren“. Das Gedicht „triptychon“ schrieb Carl-Christian Elze ohne Kommas und Punkte, weil sie seine Erinnerungen an das Damals nur bremsen würden.

Aber allzu ausführlich wollte der Autor nicht über die Vergangenheit reden, denn ganz gewiss erschöpft sich darin nicht, was er im Schreiben vermitteln möchte.

Die Geschichte eines Jugendlichen, der im Roman zunächst nur Freudenberg genannt wird, hat damit nichts zu tun. Der Siebzehnjährige fühlt sich fremd in der Welt, denn er nimmt sie anders wahr als all die anderen, denen er begegnet.

Darauf, Freudenberg als Autisten zu beschreiben, wollte sich der Autor nicht festlegen. Freudenberg ist für ihn jemand, der sich wie ein Kuckuckskind fühlt, zu seinen Eltern keine Bindung aufbauen kann und in deren Ehe als Grund für Streitigkeiten dient. Nach seinem Hauptschulabschluss hat der Vater entschieden, wo der Sohn seine Lehre machen wird. Eindrucksvoll und ungewöhnlich wird die Wahrnehmung dieses Jungen bei einer Urlaubsfahrt mit den Eltern an die Ostsee vermittelt. Freudenberg entschließt sich zu einer Flucht aus der elterlichen Bevormundung.

Ob der Name des Jungen ein sprechender Name sei? Ein Schüler hatte vermutet, er heiße so, weil seine Freude wie in einem Berg gefangen sei. Der Autor widerspricht nicht, stimmt sogar zu, aber er sieht sich nicht als Schiedsrichter über richtige oder falsche Deutungen.

An der intensiven Art, wie er vorliest, spüren wir, wie seine Geschichte klingen soll. Zu einem modernen Roman gehört sicherlich ein großes Maß an Offenheit. Menschliches Leben lässt sich immer nur ansatzweise erschließen und erklären. Auch was noch Traumwelt ist oder was wir wirklich erleben, kann ineinander fließen. Das macht das Gehörte nicht einfacher, aber offener und spannender.

Wir bedanken uns herzlich bei unserem Technikteam, ohne dessen Mikrofon viel von der Wirkung der Worte des Autors verlorengegangen wäre. Das Technikteam unter Leitung von Herrn Deja-Götzinger wurde vertreten durch Jakob Kindlein, Maximilian Haarstrich, Hugo Reiche und Vrishab Fernandes, alle aus der Klasse 7.5.

Ebenso herzlich bedanken wir uns beim Förderverein unseres Gymnasiums, ohne den diese Veranstaltung nicht hätte stattfinden können.

(Klaus Nührig, 23.Juni 2023)

Die Peiner Nachrichten berichten hier.